„… und dann hatten wir einander alle lieb!“

Vor ein paar Tagen habe ich über eine Leseprobe geschimpft. Das Buch sah aus, als sei es total mein Ding – Urban Fantasy, Humor, eine originelle Idee. Weil ich aber im Oktober schon meine Bücherkapazitäten überschritten hatte und es bei UF immer ein gewisses Risiko gibt, dass zuviel Romance/Spice mir das Lesevergnügen verderben (mehr für euch! Aber ich möchte lieber nicht.), hatte ich erst einmal nur eine Leseprobe mitgenommen.

Und was kann ich sagen? Zum Glück! Direkt in der ersten Szene gab es einen Konflikt mit zwei anderen Personen. Kann vorkommen, ist gut für Geschichten, nur: Die Haupt-Charakteristika der Gegnerinnen, wie sie von der Hauptfigur beschrieben wurden, waren: Fett, hässlich und dumm. Klar gibt es solche Leute, aber für mich riecht das hart nach einem billigen Lacher und internalisierter Misogynie. „Schau mal, die dicke Frau ist dick! Und gemein! Haha!“ Hinzu kam, dass die Ich-Erzählerin extrem inkonsistent und inkompetent agierte. Möglicherweise ist das ab dem nächsten Kapitel ein echt tolles Buch, aber nach der Leseprobe habe ich erst einmal, ehrlich gesagt, gar keine Lust, das herauszufinden.

Eine Freundin, mit der ich meinen Unmut über die Leseprobe teilte, meinte, es sei einfach langweilig, wenn man nur über nette und freundliche Charaktere liest.

Ja.

Aber.

Wenn ich dreihundert Seiten mit einer Figur verbringe, das sind für mich alte Frau etliche Lesestunden, muss sie sympathisch sein. Oder wenigstens nachvollziehbar. Interessant reicht auch. Das ist wie mit dem Freundeskreis im echten Leben – meine Freund*innen sind alle toll, aber längst nicht alles Heilige. Und wieso sollte ich über jemanden lesen wollen, mit dem ich mich nicht eine Zugfahrt lang unterhalten wollte?

Andere Leute haben da höchstwahrscheinlich andere Auswahlkriterien. Und wenn das Leben hier draußen in der Realität weniger finster und hässlich und anstrengend ist, starte ich vielleicht noch einen zweiten Versuch mit diesem Buch. Oder einem der vielen anderen hochgelobten Bücher, die ich aus ähnlichen Gründen weggelegt habe, bestimmt hab ich über sowas schon öfter geschimpft.

An dieser Stelle kann man beim Schreiben in der Ich-Perspektive übrigens wirklich viel reißen (oder versemmeln). Die Wortwahl der Figur, was ihr auffällt und wie sie auf die Welt blickt sind alles Charakter-Indizien. Gerade in dieser Perspektive ist es ja, als säße man mit einer Person beim Kaffee, die einem einen Schwank aus ihrer Jugend erzählt. Das kann sehr unterhaltsam sein oder sehr anstrengend.

(Ebenfalls oft übersehen: In der Ich-Perspektive und im Rückblick biegen sich Leute schnell mal die Welt zurecht oder lügen geradeheraus. Das kann man natürlich für eine Geschichte verwenden, muss es dann aber auch gekonnt umsetzen. Für Leute mit dickem Fell ist „Lolita“ da ein gutes Anschauungsbeispiel.)

Worauf will ich hinaus? Ach ja. Ich bin gar nicht darauf aus, dass Protagonist*innen immer gut und lieb und edel sind. Die, die ich schreibe, sind das ja auch nicht. Aber ich möchte sie als nachvollziehbar, in sich logisch/konsequent und interessant erleben. Die meisten Menschen haben Macken – Anwesende ausgeschlossen – aber nicht jede Macke macht einen Charakter lebendig. Manche machen einen nur unsympathisch.

(Off-topic, aber wenn du schöne positive und konstruktive Charakterisierung mit Macken sehen willst, lege ich dir bei Netflix „The Lincoln Lawyer“ ans Herz. Der Mann ist schon ganz genervt von meiner Schwärmerei, doch die Charaktere sind, so weit wir das geguckt haben, wirklich gut geraten. Und jetzt hör ich mal auf zu schwadronieren, wenigstens für heute.)


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