Manchmal unterhalte ich mich mit Leuten übers Schreiben, und die erzählen mir: „Ich würde ja so gerne einen Roman schreiben, aber das ist so ein riesiges Projekt! Das krieg ich ja nie fertig!“ Und zum einen verstehe ich das, zum anderen … du musst dir einfach kleinere Stücke abbeißen.
Seit einer Weile schon wollte ich mal eine Decke häkeln. Nur um zu gucken, ob ich das kann. Aber so eine Decke ist ja groß, und ich weiß, wie lange ich schon für die Schultertücher brauche. Bestimmt schaffe ich das nie, so ein großes Projekt!
Glücklicherweise hatte die Garnmanufaktur letztes Jahr das perfekte Set für mich – eine Anleitung mitsamt Garn für eine Temperaturdecke. Temperaturdecken (oder Schals, oder …) funktionieren immer nach dem gleichen Prinzip: Für jeden Tag wird ein Abschnitt gestrickt oder gehäkelt, und die Farbe sucht man nach dem Wetter des jeweiligen Tages aus. Dieses Projekt gefiel mir besonders, weil jede Kachel drei Informationen enthält: Wenn es an dem Tag geregnet hat, ist das Zentrum der Kachel schwarz. Die innere Farbe steht für die Mindesttemperatur, die äußere für die Höchsttemperatur – und verbunden wird alles wieder wabenartig mit schwarzem Garn. Und das Schöne – du hast es erraten – man macht jeden Tag nur eine Kachel. Das hat am Anfang bei mir etwa eine halbe Stunde gedauert, die letzte Kachel heute morgen habe ich in 15 Minuten gehäkelt.
(Meine Decke geht von einer Wintersonnenwende zur nächsten, mit schwarzen Kacheln für den Neumond und Kacheln mit silbernem Rand – mit Hilfe von Beilaufgarn – für Vollmondtage, deswegen ist sie heute morgen fertig geworden.)
Rein theoretisch musste ich mich also nur jeden Tag für etwa eine halbe Stunde hinsetzen und die Kachel für den Vortag machen. Klingt völlig realistisch, oder? Also habe ich das Set gekauft und mich drangesetzt. Und natürlich lief es NICHT immer so schön regelmäßig. Manchmal war ich Abends zu müde, um mit mehreren Farben zu häkeln. Manchmal hatte ich keine Zeit. Manchmal musste ein anderes Projekt fertig werden – oder ich war auf Reisen, da nimmt man lieber nur ein Knäuel mit statt einer Box voller Garn.
Und zu guter Letzt – als es im Sommer so warm war, dass die Temperaturtabelle der Garnmanufaktur nicht mehr ausreichte, um das Wetter abzubilden, und ich kupferfarbenes Beilaufgarn für die beiden heißesten Tage hinzugenommen habe, hatte ich längere Zeit einfach keine Lust, dann auch noch schwitzend unter so einem halbfertigen Ding zu sitzen. Also habe ich mir nur fleißig Notizen zu Niederschlag und Temperatur gemacht (dieser Homepage sei Dank!) und mich, als es wieder kühler wurde, ans Werk gemacht, um wieder aufzuholen. War auch gar nicht schlimm, als ich zeitweise 40(!!) Kacheln zurück lag. Ich wusste allerdings, dass ich am 21.12. die letzte Kachel häkeln wollte.
Das habe ich heute morgen auch gemacht. Also ein Jahr lang jeden Tag im Schnitt 25 Minuten Arbeit, und am Ende hat man eine Decke.
Genau das gleiche kannst du mit einem Roman machen. Sagen wir, der soll etwa 80.000 Wörter lang werden. „Carrie“ von Stephen King hat im Original etwa 62.000 Wörter, mit 80.000 bist du also schon wirklich gut dabei. Wenn du das innerhalb eines Jahres schreiben wolltest und würdest dich dafür jeden Tag dransetzen, wie viele Wörter wären das pro Tag?
Ich hab’s für dich ausgerechnet: Etwa 220.
220 Wörter – dieser Blogpost ist schon länger! Das ist etwa eine Normseite. Die schafft man ganz fix! Am besten machst du dich also direkt heute ans Werk. Und wenn du mal an einem Tag nichts schreibst, ist das nicht wild – du kannst aufholen, und an anderen Tagen schreibst du dafür bestimmt mehr, wenn du einmal im Fluss bist. Beiß dir von dem Mammutprojekt „Roman“ also einfach jeden Tag 220 Wörter ab und schau, dass du die fertig kriegst.
(Natürlich ist es gut, wenn man für solche Projekte einen Plan hat. Das muss kein Plot sein, wenn du lieber drauflos schreibst, aber ein Plan wäre gut.)
Und wenn du das durchziehst, hast du am Ende des Jahres eine wunderbare Wortdecke, in die du deine Leser einwickeln kannst.
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