Diese Kurzgeschichte habe ich letztes Jahr im Jun veröffentlicht. Ich hätte nicht erwartet, dass die Technik uns so schnell einholt.
Es ist schon früh am Morgen. Gleich wird die Sonne es sich auf den flachen Containerdächern gemütlich machen. Ihr Licht schneidet einen schmalen Streifen aus der Dunkelheit.
Emma kneift die Augen zusammen. Sie hat mal wieder nicht geschlafen. Eigentlich hat sie um elf einen Termin beim Jobcenter, doch den wird sie absagen lassen. Die Krankschreibung sieht täuschend echt aus. Sie zieht an den Vorhängen. Nimmt sich noch einen Energydrink aus dem Kühlschrank. Der brummt unwuchtig und rattert einmal gegen die Wand, ehe er wieder verstummt. Wahrscheinlich sollte sie anfangen, für einen neuen zu sparen.
Wenn man sich ganz unten erst einmal häuslich eingerichtet hat, ist es eigentlich okay. Die Unterbringung in der Containerstadt sei nur temporär, hat ihr Sozialarbeiter vor zwei Jahren gesagt. Eine Übergangslösung, damit sie nicht wieder obdachlos werde. Da war er noch sehr enthusiastisch, mit Blick auf ihren «vielversprechenden Lebenslauf» und ihre Sozialprognose.
Emma hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm seine Illusionen zu rauben.
Der Container ist klein und praktisch eingerichtet. Früher, als man Waren noch um die ganze Welt transportieren musste, gab es viel mehr von ihnen, und sie wurden nicht als Wohnraum zweckentfremdet. Inzwischen kann man alles, was der Mensch begehrt, günstig vor Ort drucken: Lebensmittel, Spielekonsolen, Prothesen. Die Grundzutaten werden durch gigantische unterirdische Rohre gepumpt, das hat Emma einmal in der Schule gesehen. Als Achtjährige hätte sie in so einem Rohr noch aufrecht stehen können. Die Container, die plötzlich nicht mehr gebraucht wurden, standen lange herum und rosteten vor sich hin. Dann hatten Wohltäter die Idee, aus ihnen die «Endstation Sehnsucht»-Siedlungen zu bauen. Alle Container wurden gründlich gesäubert, isoliert und exakt gleich eingerichtet.
Viel Zeit wurde darauf verwendet, herauszufinden, was für das menschliche Leben essenziell sei. In jeden Container passt ein Bett, eine Küchenzeile, eine Nasszelle und ein Tisch. Familien können einen Antrag auf geöffnete Verbindungstüren stellen und haben etwas mehr Freiheit bei der Auswahl ihres Mobiliars.
Von außen sind die Container nach wie vor rostig. Die Originallackierung wurde aus nostalgischen Gründen erhalten. Immer drei sind aufeinandergestapelt, mit winzigen Fenstern und einem Zahlencode zur Orientierung. Die Küche benutzt Emma nie. In den Schränken bewahrt sie nur Getränkedosen und Müsliverpackungen auf. Anstatt zu spülen, verwendet sie Einweggeschirr. Wegen des Mülls hat sie kein schlechtes Gewissen, der wird zu siebenundneunzig Prozent recycelt. Irgendwo müssen die Rohstoffe schließlich herkommen, nicht wahr?
Als sie die Dose an den Mund führt und trinkt, stemmt das Koffein sich gegen ihre Kopfschmerzen. Sie hätte nicht die ganze Nacht wachbleiben sollen. Nur ist es leider so, dass sie nachts am besten programmiert, und Topform erreicht sie erst Stunden vor der Deadline. Im Gegenzug für unauffälligen, praktischen und nicht direkt legalen Code erhält sie anonyme Credits, die sie überwiegend in Technik investiert. Sie braucht sonst nicht viel.
Die Hologrammtechnik gilt inzwischen als überholt. Der Fortschritt hat sie überholt und im Staub der Geschichte zurückgelassen. Vor einigen Jahren konnte man nicht über die Straße gehen, ohne durch täuschend echte Projektionen in Restaurants gelockt, von Politiker*innen überzeugt oder in Testimonials über die neueste Kommunikationstechnik informiert zu werden. Personen in flimmernden Anzügen erinnerten an die Abgabefrist für die Steuererklärung («Nur drei Klicks, bestätigen Sie Ihre Daten noch heute!») oder riefen dazu auf, für den guten Zweck zu spenden. Dann entschied das Gremium, dass diese Technik zu energieaufwändig sei. Innerhalb weniger Wochen, so sah es wenigstens von außen aus, stieg die komplette Öffentlichkeit auf Projektionen in speziell gehärteten Glasscheiben um. Die wirkten sogar noch lebendiger. Dank innovativer LED-Technologie entfiel sogar das Flackern, das einen sonst vor Billigproduktionen gewarnt hatte. Wer kann, lässt sich heute bereits Netzhautchips implantieren – die nächste groß angekündigte Neuigkeit. Aber das ist vorerst etwas für Reiche. Nur wenige können sich die Operationen leisten, die mit der Korrektur von unausgereiften Systemen einhergehen.
Early-Adopter-Chirurgie ist das Fachgebiet, das Emma ursprünglich einmal studieren wollte.
Bei jeder Gelegenheit kauft sie jetzt stattdessen Hologrammtechnik auf. Sie hat sich selbst beigebracht, die einzelnen Komponenten zu warten und zu reparieren. Manchmal ersetzt sie eine Linse durch ein umgeschliffenes Brillenglas – noch so ein Relikt aus finsterer Vorzeit – oder greift auf altmodische Kabel zurück, wenn sie anders keine Leitbrücke bauen kann. Im Regal neben dem Fenster stapeln sich Datenträger mit Handbüchern und Anleitungen neben dem, was ihr Stiefvater wohl abfällig als «Schrott» bezeichnen würde. Er ist nie komplett im neuen Zeitalter angekommen. Schrott gibt es schon lange nicht mehr. Nur noch Grundlagen für neue Materialien. Die Menschheit ist weit gekommen seit den Müllkriegen in Afrika.
Wenn bekannt würde, was Emma hier hortet, bekäme ihre Sozialakte ein negatives Tag. Verschwendung von Ressourcen. Aber sie kennt die richtigen Leute.
Endlich fährt sie den Computer runter, den sie offiziell nicht besitzt, und wirft die leere Dose in den Abfallschlund in der Ecke. Die wird mit einem dumpfen Sauggeräusch verschluckt. Der Druck schwankt in dem kleinen Raum nur minimal. In besseren Wohnanlagen merkt man angeblich gar nichts von der modernen Abfalltechnologie. Nicht, dass Emma sich an den kleinen Mängeln ihrer Behausung stört. Sie braucht keinen Luxus. Es reicht, wenn sie niemandem begegnen muss und ihre Ruhe hat. Sie achtet darauf, gerade so viele Termine beim Jobcenter wahrzunehmen, dass man ihr nicht die Unterstützung streichen kann, und performt in den Jobs, die sie dann angeboten bekommt, immer gerade so schlecht, dass es dem Arbeitgeber nicht leidtut, den Vertrag nicht zu verlängern.
Vor drei Monaten war es einmal kritisch. Ein Sachbearbeitery hat sich Sorgen gemacht wegen der Diskrepanz zwischen Emmas überdurchschnittlichen Begabungen (sie selbst würde es anders ausdrücken, aber so steht es in ihrer Akte) und der immer länger werdenden Kette an dokumentierten Fehlschlägen. Der Einladung zum Gespräch mit einer ausgebildeten Fachperson konnte Emma sich nicht entziehen. Sie hat es natürlich dennoch versucht.
Ob sie irgendwas bedrücke?
Ob sie Angst vor Erfolg habe?
Ob da irgendwas sei, worüber sie mit niemandem reden könne?
Zum Glück war es nicht schwer, eine Erklärung zu liefern. Viele Hochbegabte (einmal mehr: Nicht ihre eigene Wortwahl!) scheitern am Alltag. Nachdem man sich davon überzeugt hatte, dass Emma nicht offensichtlich psychotisch oder anderweitig eine Gefährdung für die Gesellschaft war, bekam sie bei der letzten Sitzung ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg und wurde wieder nach Hause geschickt. Wenn sie doch noch einmal Redebedarf habe, solle sie sich melden. Das Jobcenter könne ihr kurzfristig einen Folgetermin verschaffen. Er tippte auf seinem Tablet herum, machte wahrscheinlich einen weiteren Vermerk in ihrer Akte.
Richtig aufgehängt, sperren die Vorhänge den Tag effektiv aus. Nur an den gedämpften Geräuschen auf den Stegen zwischen den Containern erkennt man, dass Leben in die Endstation kommt. Türangeln knarzen, schwere Schuhe poltern über die Gitter. Die Frühschicht macht sich auf den Weg in die umliegenden Fabriken. Kurz darauf wird die Nachtschicht heimkehren, und dann machen die ohne Arbeit sich auf den Weg zu den Supermärkten, um ihre Credits und täglichen Bezugspunkte gegen Lebensmittel und Alkohol einzutauschen. Bis vor wenigen Jahren war das nicht möglich: Wer Unterstützung vom Staat erhielt, war in der Wahl seiner Suchtmittel stark eingeschränkt. Es dauerte Jahre, bis der Europäische Gerichtshof entschied, dass es ein unangemessener Eingriff in die Persönlichkeitsrechte sei, Leute zu gesunden Entscheidungen zu zwingen. Jetzt wird der Konsum in erster Linie über den Preis geregelt. Das Werbeverbot besteht schon lange, aber manche Gesellschaftskreise lernen einfach nicht dazu.
Emma trinkt nicht. Das fand sie schon überflüssig, ehe die Sache mit Max passierte. In der Oberstufe hat sie mit synthetischen Drogen experimentiert, aber für das Medizinstudium braucht man ruhige Hände. Wenn sie Nervenkitzel wollte, ist sie mit ihrem Fahrrad auf den Hügel hinter der Hochhaussiedlung hinauf, schnaufend und schwitzend, und dann gaaaaaaaanz schnell wieder hinabgesaust. Manchmal war es knapp, vor allem, wenn hinter der Kurve eine tieffliegende Lieferdrohne schwebte. Aber sie hatte immer Glück.
Anders als Max.
Ganz früher, als Emma noch klein war, fingen die Leute an, mit Künstlicher Intelligenz zu experimentieren. Deep Fakes waren ein großes Ding. Zuerst sahen sie lächerlich aus, in der Schule haben sie das Thema in Geschichte durchgenommen. Je besser sie jedoch mit der Zeit wurden, desto größer wurde die Angst der Leute vor der Technik, und desto härter bemühten sich Wissenschaftler, gute Verwendungsmöglichkeiten für ihr Forschungsgebiet zu finden. Schließlich ging es um den Fortschritt der Menschheit – und um eine Menge Fördergelder.
Während Emma sich auf ihr Studium vorbereitete, halsbrecherische Radtouren machte und auf Partys ging, war Max ihr schon ein paar Schritte voraus.
Max.
Ihr großer Bruder.
Ihre Welt.
Er war in die Stadt gezogen, um Jura zu studieren. An den Wochenenden kam er manchmal nach Hause, mit einer Schrottkarre, die man noch selbst steuern konnte, wenn man wollte. Für mehr hatte sein Geld nicht gereicht. Er besuchte die Familie, richtete allen neumodischen Schnickschnack, den Emma heimlich verstellt hatte, wieder korrekt ein und traf sich dann mit seinen alten Schulfreunden auf ein paar Wodka-Energy. Dank der ganzen Fahrassistenzsysteme sei das kein Problem, hat er immer behauptet.
Leider stimmte das damals noch nicht. Das Gericht stellte am Ende allerdings fest, die Mutterfirma des Lieferroboters treffe wenigstens eine Teilschuld. Er sei so eingestellt gewesen, dass er exklusiv auf festem Untergrund parke, auch wenn der feste Untergrund eine unübersichtliche Stelle auf einer Landstraße mit unbefestigtem Seitenstreifen sei. Zwischen Geschwindigkeit, Überraschungseffekt und den schattenspendenden knorrigen Bäumen auf beiden Seiten der Fahrbahn hatte Max einfach keine Chance.
Emma trauerte. Sie nahm sich ein Jahr Auszeit, um ihre Gefühle zu verarbeiten und ihre Eltern zu trösten. Dann hatte sie sich so weit erholt, dass sie endlich mit dem Studium durchstarten wollte. Schrieb Bewerbungen und Tests, stellte sich vor, beantwortete Interviewfragen. Zog ans andere Ende der Republik, weil es dort eine prestigeträchtige medizinische Hochschule gab, die sie unbedingt haben wollte. Fand ein Zimmer in einem kakerlakenverseuchten Wohnheim am Rand von München, in dem die Duschen auf dem Flur von zwei Dutzend Studenten geteilt wurden und wo regelmäßig Kochpartys stattfanden.
Und am ersten Tag des Semesters, auf dem Weg zu ihrer ersten Veranstaltung, sah sie Max wieder. Er war Teil einer Werbekampagne mit den damals noch ganz neuen Hologrammen. Leicht bläulich verfärbt stand er am Rand eines belebten Platzes, und aus versteckten Lautsprechern ertönte eine Stimme, die seiner zum Verwechseln ähnlich klang.
Was er in kurzen, sachlich klingenden Sätzen genau erzählte, bekam Emma nicht mit. Sie stand wie festgefroren am Bordstein und starrte auf ihren Bruder. Danach setzt ihre Erinnerung für eine Weile aus.
Offenbar, erfuhr sie später, versprachen wohlmeinende Fachleute sich einen stärkeren Effekt von den neuen «Kenn dein Limit!»-Kampagnen, wenn sie die Opfer von alkoholinduzierten Unfällen selbst zu Wort kommen ließen. Und obwohl diese Kampagne nach wenigen Monaten wieder eingestellt wurde, hatten sie auf gewisse Weise Recht.
Emma ging nie auf die Uni. Sie vergrub sich in ihrem Wohnheim, bis ihr Mietvertrag gekündigt wurde, tingelte eine Weile von Sofa zu Luftmatratze zu Gästebett und landete schließlich, nach einigen weniger rühmlichen Episoden, hier im Container. Sie hat sich ihren Alltag so eingerichtet, wie er zu ihr passt, geht selten unter Menschen und trinkt nie auch nur einen Schluck Alkohol. Von den synthetischen Drogen lässt sie auch die Finger. Zu gefährlich. Zu teuer. Wenigstens das haben die Initiatoren der Hologram-Kampagne also geschafft.
Ein unaufdringlicher Ton an ihrem Smartphone lässt sie wissen, dass sie eine Creditübertragung erhalten hat. Der sorgfältig verschleierte Lohn für die Arbeit der letzten Nacht. Gleich darauf pingt die E-Mail-App und aktualisiert sich. Auch wenn Emma weiß, dass alles so funktioniert, wie sie es aufgesetzt hat – schließlich hat sie das System schon Dutzende Male durchlaufen lassen – macht sie erst jetzt offiziell Feierabend. Die Spannung ihrer Nerven lässt nach. Sie vergewissert sich ein letztes Mal, dass die Vorhänge sorgfältig zugezogen sind. Das Tageslicht soll sie, bitte, nicht stören. Dann baut sie einige Apparaturen auf, verbindet altersschwache Kabel miteinander und schaltet den Strom ein. Die Konstruktion ist so geschickt eingerichtet, dass niemand einen erhöhten Stromverbrauch feststellen wird. Dabei sind Hologramme eigentlich keine energiesparende Lösung.
Es flackert auf der freien Fläche vor dem Bett. Ein hellblauer Blitz zuckt für den Bruchteil einer Sekunde durch die Luft und lässt Staubpartikel erglühen. Die Luftfilter müssen mal wieder kaputt sein.
Dann steht Max vor ihr.
Es war nicht schwer, die Daten der Anti-Alkohol-Kampagne abzugreifen. Schließlich ist Emma überdurchschnittlich intelligent. Mit der geklonten Stimme und ein wenig Tüftelei war es ihr möglich, ihren Bruder wieder zum Leben zu erwecken. Und dank der Dinge, an die sie sich erinnerte, und moderner KI-Technologie ist die Menge der Dinge, die er ihr zum Einschlafen erzählt, beinahe unbegrenzt.
Sie schluckt zwei Baldrian-Tabletten, um den Effekt des Energydrinks auszugleichen. Dann lässt sie sich aufs Bett fallen.
Die Geräte sind vorsichtig ausgerichtet. Von hier sieht es aus, als lächle Max sie direkt an.
Er kann alles sagen, was sie will.
«Wie geht es dir, kleine Schwester?», fragt er. Das fragt er jeden Morgen, wenn sie Feierabend macht.
Entspannung und Nostalgie fluten Emmas Körper. Sie streift die Socken von den Füßen und kuschelt sich tiefer in das Deckennest, das für sie das Kopfkissen ersetzt. Die verdrehte Haltung, in der sie für gewöhnlich schläft, käme mit einem Kopfkissen sowieso nicht zurecht.
Als ob sie geantwortet hätte, redet Max weiter. Emma hört ihm nicht bewusst zu, achtet nur auf die beruhigende Stimmfärbung. Sie hat Monologe wie diesen schon etliche Male gehört. Heute erzählt er ihr wieder von seinem letzten Ausflug mit den Jungs, zu einer stillgelegten Fabrik. Die Geschichte hat ihre spannenden Momente, doch Emma weiß ja, dass sie gut ausgeht. Den Teil mit der Polizei hat sie weggelassen. Wenn sie sich doch nur überwinden könnte, das Programm mit weiteren Details aus Max‘ Tagebuch zu füllen. Das ist eines der wenigen Dinge, die sie aus ihrem Elternhaus mitgenommen hat. Nur hineinzuschauen, das hat sie nie geschafft. Sie nickt und verzieht den Mund zu einem müden Lächeln.
So lässt es sich aushalten.
Karriere, Credits, ein Sozialleben – all das braucht sie nicht.
Das hier ist es, worauf es ankommt.
Emmas Augen fallen zu.
Sie träumt.
Sie und Max gegen den Rest der Welt.
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